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Der Löwe als Streitschlichter

Sage der Temne

Der Elefant und die Ziege hatten einst einen Streit, wer von ihnen am längsten grasen könne. Der Löwe, an den sie sich wandten, damit er ihren Streit schlichte, gebot ihnen, mit ihm in den Wald zu kommen. Als sie dort angelangt waren, sprach er: Ihr sollt nun hier grasen; der Elefant grase zu meiner Rechten, die Ziege zu meiner Linken. Hernach werde ich mein Urteil fällen.
Die Tiere gehorchten. Der Elefant knickte mit seinem Rüssel die stärksten Bäume um und fraß die Blätter ab, wobei er die kleine Ziege laut verlachte. Die aber graste unverdrossen weiter und sagte: Wir wollen schon sehen, warte nur! Um die Stunde des Reisstampfens [zwei Stunden vor Sonnenuntergang] ging der Löwe mit den beiden auf ein Grasfeld und ließ sie dort weiter grasen. Als die Sonne unterging, sprach der Elefant: Ich dächte, wir gingen ein wenig zur Ruhe! Ich habe noch lange nicht genug , meinte die Ziege, laß uns bis Mitternacht grasen. Die Mitternacht kam endlich heran, und der Löwe sagte: Kommt jetzt mit mir auf jenen Felsen und laßt uns ruhen. Alle drei legten sich nun auf dem weiten, nackten Felsen nieder, auf dem kein grüner Halm wachs; der Elefant hatte sich die bequemste Stelle ausgesucht. Bald war er eingeschlafen, und auch der Löwe schlief. Die Ziege aber fing an wiederzukäuen; das gab ein vernehmliches Geräusch, und der Löwe erwachte. Was machst du da? fragte er. Ich esse , war die Antwort, ich bin noch nicht satt. Aber was ißt du denn? fiel der Elefant ein, der gleichfalls wach geworden war. Ich esse den Felsen , entgegnete die Ziege, Grünes sehe ich nicht; und wenn ich damit fertig bin, dann werde ich etwas ganz besonders Süßes essen. Da sagte der Löwe: Kommt nur beide her, daß ich den Streit zwischen euch schlichte. Der Elefant und die Ziege gehorchten. Diese kaute noch immer geräuschvoll wieder. Die hat noch immer nicht genug , murmelte der Elefant. Der Löwe gab darauf sein Urteil. Die Ziege, sagte er, soll unter den Menschen wohnen. Da sie allein nicht satt werden kann, so mögen ihr die Menschen dazu behilflich sein. Der Elefant aber, der die Zäune und Häuser der Menschen beschädigt, darf nicht unter ihnen weilen. Er gehe in den Wald und bleibe dort, denn die Ziege hat ihn im Essen überwunden. Nimm dich vor ihr in acht, Elefant, sie, die vom Felsen gegessen, will gewiß auch dich noch vertilgen.
[206] Da enteilte der Elefant in den Wald, suchte den Leoparden auf und sprach zu ihm: Leopard! Ich gebe die Ziege in deine Gewalt: fange sie ein und töte sie! Wenn sie mich findet, wird sie mich sicherlich fressen! Darum töte sie, wenn du kannst.
Seit der Zeit streift der Elefant einsam im Walde umher, der Leopard aber stellt der Ziege nach, die der Elefant in seine Gewalt gegeben hat.

[1] Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 206
[2] Bleek, Reineke Fuchs in Afrika, S. 123
[3] B.F. Schlenker, Collection of Temne Traditions (London 1861), S. 60.

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