Kapitel 05 - Candy

Wieder einmal stand Weihnachten im Zeichen einer Wildkatze. Nur hatten wir diesmal die Angst der Krankheitsperiode hinter uns und durften ernsthaft hoffen, dass wir unser Wildkatzenbaby groß (wie groß?) bekommen würden.

Das Dreigespann Jantje, Cleo und Buena half mir beim Heraussuchen des Weihnachtsschmuckes. Allerdings, die Kerzen haben nicht lange gebrannt. Es war zu gefährlich mit den beiden Kleinen, deren schnelle Bewegungen nicht voraussehbar waren. Buena liebte den Weihnachtsbaum, aber sie hatte schnell begriffen, daß sie nicht hineinklettern durfte. Wie immer tat sie alles gern so wie wir es wollten, wenn sie nur erst wußte, was von ihr erwartet wurde, wenn auch unsere Zivilisationsmaßstäbe ihren noch unverdorbenen nicht immer entsprachen. Als ihr klar geworden war, daß der Stachelbaum nicht zum klettern geeignet war, legte sie sich brav daneben in den offenen Bücherschrank, zwischen Fotos und die ausgestopfte "Margaytje".

In dem Jahr hatten wir zum letzten Mal echte Kerzen im Weihnachtsbaum. Wir nahmen uns vor, zum nächsten Weihnachtsfest die weitaus katzensicherere, elektrische Beleuchtung einzuführen.

Auch sonst machten wir in jenen Weihnachtstagen Pläne für das neue Jahr. Hinter unserem Garten, dort wo jetzt Häuser und Straßen sind, war damals noch ein etwas verwildertes Wäldchen. Ich erinnere mich noch an Birken, die im Herbst goldüberzogen schienen, an Buchen und eine Edelkastanie, deren Früchte die Kinder im Spätherbst pflückten.

Mit wachsendem Katzenbestand hatten wir unseren Garten zwar umzäunt, aber die Katzen überkletterten den Zaun mit Leichtigkeit. Das war kein so großes Problem, denn die Gegend war damals noch ungefährlich für freilaufende Katzen und das Wäldchen war ein geliebter Spielplatz für sie. Jetzt würden wir bessere Sicherungen anbringen müssen, denn weder Buena noch Cleoni würde man mit einem einfachen Gitterzaun im Garten halten können und sie in der Gegend herumlaufen zu lassen ging entschieden zu weit.

So wurde der Plan gefaßt, den ganzen Garten mit kräftigem Maschenzaun zu sichern und auch ein Dach von Maschenzaun anzubringen, so daß der ganze Garten ein großer Zwinger werden würde. Gleich im Frühjahr sollte die Arbeit beginnen.

Der Januar war feuchtkalt, wie die holländischen Wintertage so sind. Aber Buena machte sich nichts daraus. Das Haus war gleichmäßig zentral geheizt und es war für sie noch voller Abenteuer.

Am 10. Januar 1962 hatte der Nebel lange vor dem Fenster gehangen. Es war einer dieser zähen Wintertage, an denen man das Gefühl hat, daß man gar nicht richtig wach ist. Die Zeit würde sich irgendwie hinschleppen.

Gegen Mittag ging das Telefon. Als ich abnahm, meldete sich eine freundliche Stimme: "Hier spricht Frau Verolme. Ich will Ihnen nur mitteilen, daß in Schiphol eine Überraschung auf Sie wartet. Können Sie hinfahren oder soll ich einen Chauffeur schicken?"
Ich konnte selbst fahren, mein Mann hatte am Morgen das Auto stehen lassen, des Nebels wegen. Was ich geantwortet habe, weiß ich nicht mehr. Es wird wohl irgend etwas Unzusammenhängendes gewesen sein.

Ich informierte schnell die Kinder: "Wenn Papi eher als ich nach Hause kommt, sagt nur, daß ich eben nach Schiphol gefahren bin."

Wie ich überhaupt nach Schiphol gekommen bin, ist mir ein Rätsel. Mir gingen die unwahrscheinlichsten Gedanken durch den Kopf. Auf dem Flugplatz kannte ich mich inzwischen aus: das heißt, auf dem alten von damals. Auf dem heutigen kann sich wohl niemand mehr ohne Hilfe zurechtfinden. Ich ging gleich zur Abfertigung.

Als wir Buena abgeholt hatten, hatte der Beamte gefragt, ob wir einen Zoo hätten. Diesmal fragte er:

"Für wen holen sie das Tier? Es ist eine Warnung dabei, es soll sehr gefährlich sein."
"Ich hole es für mich selbst." sagte ich.
"Und was wollen sie damit machen?" fragte er jetzt.
"Liebhaben!" sagte ich so gleichgültig wie möglich.

Er sah mich an mit dem Blick eines Beamten, der aus Erfahrung gelernt hat, mit Verrückten umzugehen.
"Aha" war alles, was er dazu zu sagen hatte und er reichte mir die Papiere. "Bitte hier unterzeichnen und hier und dort noch einmal. Der Zoll und die Transportkosten sind bereits bezahlt."

"Aha" sagte ich jetzt meinerseits und machte mich auf den Weg über die langen Gänge und Treppen zum Tierhotel um das "gefährliche" Tier abzuholen. Dabei dachte ich an Buena und an das Margaytje, die zwei anderen "wilden" Tiere, die meine Hilfe so nötig gehabt hatten. Aber diesmal war eben doch alles ganz anders.

Die Kiste, die ich ausgeliefert bekam, war etwa 80x80x80 cm groß und sehr schwer. Einer der jungen Leute, die dort arbeiteten, half mir, sie in mein Auto zu tragen. Dieses Mal machte ich keinen Versuch, hineinzusehen. Selbst wenn die Kiste nicht so fest zugenagelt gewesen wäre, hätte ich mich nicht getraut.

Fast eineinhalb Stunden fuhr man von Schiphol bis zu unserem Haus in Arnheim. Es war längst dunkel, als ich zu Hause ankam. Die Kinder warteten schon auf mich. Wir trugen die Kiste in das Wohnzimmer und schlossen die Schiebetür zum Eßzimmer, in dem die anderen Katzen grade waren. Freerk holte Geräte, um die Kiste zu öffnen. Endlich ging der Deckel hoch ...

In dieser dickwandigen, großen Holzkiste saß ein Tierchen, so klein wie ein etwa vier Wochen altes Kätzchen. Es hatte ein breites Lederhalsband um und daran war eine dicke, eiserne Kette befestigt, die am anderen Ende wiederum an der Kiste festgemacht war.

Margaytje hatte gefaucht und gekratzt. Buena war das verkörperte Elend gewesen, als sie ankam, aber dieses Tierchen war nichts als panische Angst, Aggressivität und - übrigens berechtigte - Wut. Und diese Wut kehrte sich nun gegen uns. Sie fauchte, raste, versuchte anzufallen. Es war unmöglich, ihr das Halsband abzunehmen. Freerk holte seine Winterhandschuhe und eine Eisensäge. Marion und ich lenkten mit Gebärden die Aufmerksamkeit des Kätzchens ab und es gelang Freerk irgendwo in der Mitte die Kette durchzusägen. Dann sahen wir nur noch einen Flitz und die Katze und der Rest der Kette waren schon unter einem Schrank verschwunden.

Als mein Mann nach Hause kam, fand er im Wohnzimmer eine leere Kiste und daneben seine Frau und Kinder, die alle drei den Tränen nah waren. Wir beschlossen, daß wir nichts Besseres für das Tierchen tun konnten, als es in Ruhe zu lassen. Wir stellten eine kleine Schale mit Wasser und ein Tellerchen mit Fleisch vor den Schrank, machten das Licht aus und gingen ins andere Zimmer.

Jetzt kam die Frage auf, was für ein Tier wir jetzt wieder im Hause hatten. Wir hatten natürlich inzwischen alle möglichen Bücher über Wildkatzen gekauft, aber die Informationen darin waren so verschiedenartig und manchmal sogar widersprüchlich, daß es für den Laien wirklich verwirrend war. Ich erzählte bereits, dass es für die Margay drei verschiedene Namen gab: Baumozelot, Langschwanzkatze und Margay, noch abgesehen von den lateinischen Namen, "Leopardus wiedi" bei neuzeitlichen Autoren, oder noch "Leopardus tigrinus wiedi" in älteren Büchern. Wie schon gesagt, es gab leider noch kein "Grzimeks Tierleben", in dem alles gut übersichtlich nachzuschlagen ist.

Auf dem Frachtbrief stand als Inhaltsangabe "un tigrillo". Das an sich war eigentlich schon ein Wunder, weil in Südamerika meist für die wilden Tiere der Sammelname "bicho" oder "bichito" für ein kleines Wildtier gebraucht wird. Zahme Haustiere heissen "animales". Mit der Bezeichnung "tigrillo" hatten wir wenigstens schon einen Anhaltspunkt für weitere Nachforschungen.

Es stellte sich heraus, dass "tigrillo" die volkstümliche Bezeichnung für die "Zwergtigerkatze" oder "Oncilla" ist. "Onca" ist der lateinische Name für den Jaguar, eine Oncilla ist also ein kleiner Jaguar. Ein sehr kleiner allerdings. Ab und zu liest man auch in den älteren Büchern noch den Namen "Kleinjaguar". Oncilla ist gegenwärtig der anerkannte Name und die lateinische Bezeichnung ist jetzt offiziell "Leopardus tigrinus", aber niemand soll erstaunt sein, wenn er auch noch einmal die Bezeichnungen "Leopardus pardino des" oder "Oncifelis pardino des" findet. Das ganze Durcheinander wird wohl daher kommen, daß die liebe Menschheit sich bislang in weitaus größerem Maße für die Felle der Tigerkatzen interessiert hat, als für die Katzen selbst. Inzwischen sind sie dann auch so gut wie ausgerottet.

Wir einigten uns darauf, dass wir unserem neuen Kätzchen, unserer ONCILLA, den Namen "Candida di Jacuacanga" geben würden. Schließlich kam sie aus Jacuacanga und Candida ist in Südamerika ein ganz normaler Name. Ihr Rufname sollte Candy sein.

Am nächsten Tage rief ich Frau Verolme an, um mich zu bedanken. Ich sagte aber auch, daß ich ein schrecklich schlechtes Gewissen hätte, weil ich dem Tierchen mit meiner Bitte wohl etwas sehr Schlimmes angetan hätte.

"Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen," sagte Frau Verolme. "Es war ziemlich schwierig, den Leuten dort in Brasilien beizubringen, daß wir ein lebendes Tier haben wollten. Wenn das nicht so gewesen wäre, hätte man sie totgeschlagen. Sie werden alle getötet, die in die Nähe der Siedlungen kommen, wenn man sie erwischt. Man betrachtet sie als Schädlinge, die Hühner stehlen."

Von dem Augenblick an nahm ich mir vor, daß ich an diesem einen Tier wenigstens etwas gutmachen würde, was die Menschen ihren Artgenossen angetan haben und noch antun. Es sollte ein gutes Leben bei uns haben, ob es nun wild oder zahm werden würde. Wenn ich heute zurückblicke, weiß ich, das mir dieses Vornehmen gelungen ist. Dafür bin ich dankbar.

Aber genau so dankbar bin ich für alle Liebe und Freude, die sie mir gegeben hat, die kleine, nun wirklich wilde Tigerkatze aus Brasilien.

Menschen und Tiere könnten immer in vollkommener Freundschaft leben, wenn der Mensch nur seine Ängste und Aggressionen und vor allem seine Überheblichkeit den Tieren gegenüber abbauen könnte. Es ist wohl so, das während der Mensch sich im Laufe der Evolution auf den Weg machte, sich zum "Homo sapiens" emporzuarbeiten, ihm der Stolz auf seine Leistungen so zu Kopfe gestiegen ist, das er beschloss sich die ganze Erde zu unterwerfen. Dieses verwerfliche Unterwerfen wurde dann auch noch eben durch das Motto "Der Mensch soll sich die Erde untertan machen!" legalisiert und nur zu gern akzeptiert. Wer allerdings selbst mit Tieren zusammenlebt, lernt auch über sie nachzudenken und sieht schnell ein, wie sehr wir in die Irre geführt werden sollen.

Das Fleisch hatte Candy in der ersten Nacht nicht angerührt. Auch sonst deutete nichts darauf, daß das Tierchen sich von der Stelle gerührt hatte. Am Abend setzte ich wieder frisches Fleisch vor den Schrank und das war am nächsten Morgen wirklich fort. Nun gab es am dritten Abend bei uns wieder eine Portion Fleisch, aber diesmal setzte ich den Teller nicht unter den Schrank, sondern in die Mitte des Zimmers. Das Licht machte ich nun nicht aus und ich ging auch nicht fort. Mit meiner Strickarbeit machte ich es mir in einem Sessel in der Nähe des Fleischtellers bequem. Jetzt zeigte sich wieder, das ich eigentlich ein Nachtmensch bin. Ich kann ganz gut bis in die späten Stunden arbeiten und sogar dieses Buch wurde hauptsächlich in den späten Stunden geschrieben, wenn alles so schön ruhig ist.

So saß ich ungefähr bis drei Uhr früh. Dann kam auf einmal ein ängstliches Köpfchen unter dem Schrank hervor und fauchte zur Sicherheit erst einmal in meine Richtung. Schnell lief Candy an mir vorbei zum Teller mit dem Fleisch. Mit einem drohenden Knurren packte sie ein Stückchen und verschwand damit unter dem Schrank. Das wiederholte sich bis zum letzten Brocken und mir gab es Gelegenheit die ersten Fotos von meinem neuen Kätzchen zu machen.

Wir hatten ein Kistchen mit einem Kissen nicht weit vom Schrank aufgestellt. Als ich gegen vier Uhr zu Bett ging, hatte Candy es noch nicht beachtet. Aber als ich am nächsten Morgen in unser Wohnzimmer kam, lag sie auf dem Kissen. Das war der erste Erfolg.

Ich verständigte den Tierarzt Dr. van Werven von unserem neuen Hausgenossen und er war der Meinung, daß das Tierchen, ob es nun wild oder zahm sei, direkt geimpft werden müsse.

"Aber wie wollen sie das machen?" fragte ich. "Sie ist unhantierbar."

"Warten sie es ab." sagte er und kam noch am gleichen Tage.

Er verlangte eine feste Wolldecke von mir, kroch auf Händen und Füßen halb unter den Schrank und erschien mit der zappelnden Decke wieder, die ich an einer Stelle, die er mir anwies, fest herunterdrücken musste. Er fand ein kleines Stückchen Candy unter der Decke, - ich glaube, es war die Hinterpfote- in das er den Impfstoff spritzen konnte. Es war großartig. Es gelang ihm sogar irgendwie, die Kette los zu bekommen. Nur das Halsband hat er nicht mehr geschafft, das blieb erst einmal wo es war.

Nun saß ich jede Nacht bis drei, vier Uhr neben dem Fleischtellerchen, eine Kaffeekanne in Reichweite, mein Strickzeug dabei, um eine Beschäftigung zu haben, und den Fotoapparat griffbereit. Nach ein paar Tagen nahm ich das Tellerchen auf den Scho und packte jedes mal ein Stück Fleisch und lie meine Hand damit über die Lehne des Sessels hängen. Ab und zu sagte ich leise: "Candy", damit sie sich an ihren Namen gewöhnte. Dann dauerte es sehr lange bis Candy wie ein Blitz entlang rannte, im Spurt das Fleisch aus meinen Fingern riss und damit verschwand. Aber das Ganze flößte ihr doch noch immer panische Angst ein, eine Angst, die ich ihr unbedingt nehmen wollte.

Es gibt eine Erzählung von Manfred Kyber, darin zieht ein Eremit in den Wald, um dort bei den Tieren zu wohnen. Aber als er dort lebt, bemerkt er, daß alle Tiere große Angst vor ihm haben. Und dann "schämt er sich ein Mensch zu sein". So ungefähr fühlte ich mich, wenn ich die Stunden dort im nächtlichen Zimmer mit Candy verbrachte...."Was hat man dir und deinen armen Artgenossen angetan, Candy, daß du dich so sehr fürchten musst?" Eins wusste ich sicher: Candy würde lernen müssen, uns zu vertrauen, wenn ihr Leben bei uns erträglich werden sollte.

Unerwartete Hilfe kam von Cleoni. Ich erwähnte schon einmal, daß die Abessinier ein ganz ungeheures Zärtlichkeitsbedürfnis haben. Außerdem wissen sie sehr gut, was sie wollen und sorgen dafür, daß sie es wenn nur irgend möglich auch bekommen.

Alle anderen Katzen im Haus hatten längst neugierig an der Türschwelle geschnüffelt, hinter der "die Neue" sich befand. Aber es schien mir noch viel zu früh, sie hereinzulassen. Dabei hatte ich natürlich nicht mit dem Trickrepertoire der Abessinier gerechnet. Wenn die nämlich in ein Zimmer kommen wollen, in das sie nicht herein sollen, dann setzen sie sich mit gleichgültiger Miene hin und zeigen für alles Mögliche Interesse außer für die bewusste Tür, durch die sie nicht hindurch dürfen. Im Augenblick, in dem man dann den ersten Spalt der Tür geöffnet hat, sind sie schon hinein geflitzt. So auch Cleo eines Abends, als ich zu Candy ging. Und dann zog sie vor der halb erstarrten Candy eine Superschau ab. Sie gab Köpfchen, leckte mein Gesicht, zog an meinen Haaren, spielte mit einer Feder von Buenas Taube.

Ich bin überzeugt, daß das die Nacht war, die die große Wende brachte. Die schlimmste Spannung war gewichen. Cleos gutes Vorbild hatte eine Spur von aufkommendem Vertrauen hervorgezaubert, die wie ein zarter Sonnenstrahl durch die dunkle Atmosphäre der Angst und Panik zog.

Von nun an wurden Candy und Cleo zusammen gefüttert. Ich stellte einen Teller mit einer doppelten Portion Fleisch auf die Lehne des Sofas und lie es dort stehen. Ich setzte es so hoch, weil ich damit Candy etwas aus ihrer Reserve zu locken hoffte. Zu meiner Freude hatte ich Erfolg, Cleo begann zu futtern und dann kam Candy - die ihren Nahrungsrückstand noch immer nicht eingeholt hatte- schnell dazu und beide teilten sich den Schmaus. So sehr verlor Candy ihre Angst vor mir, wenn sie Cleo so unbefangen mit mir umgehen sah, daß sie sogar bald, ohne große Panik zu zeigen, kleine Stücke Fleisch aus meiner Hand annahm. Diesen so sichtbaren Fortschritt hat mein Mann schnell fotografiert.

Meine Familie hat mich damals ab und zu ausgelacht, weil ich den ganzen Tag über meine Katzen fotografierte. Ich hätte jeden dieser Augenblicke unsterblich machen wollen. Heute bin ich froh über meine vielen Fotos. Sie bedeuten mir viel und wer würde mir nach den vielen Jahren meine Geschichte noch glauben, wenn ich sie nicht mit Fotos belegen könnte?

Eine Woche lang ging alles vorzüglich. Cleo erfand immer neue Spielchen, die Candys Neugierde weckten. Längst hatte Candy katzenprogrammgemäß ihre Untersuchungsrunden durch das Zimmer gemacht, sie wechselte ihre Schlafplätze, was ich als Zeichen wachsender Sicherheit auffaßte, - da geschah etwas Unerwartetes. Als Cleo und ich am Abend mit dem Futter kamen, lag Candy apathisch in ihrem Kistchen und rührte sich nicht. Sie atmete schwer, das Fell stand offen. Ich durfte sie sogar anfassen, sie schien es kaum wahrzunehmen. Es bestand kein Zweifel, Candy war krank.

Wieder beschlich mich diese Angst, die wohl ein jeder kennt. Sie zieht durch den ganzen Körper, durch alle Glieder, wie eine Lähmung, während zugleich durch die Gedanken alle Befürchtungen, Möglichkeiten, alle Notwendigkeiten und alle Hoffnungen jagen.

Der Tierarzt kam in den frühen Morgenstunden. Die Decke war nicht nötig, um Candy eine Spritze zu geben. Ein Antibiotikum gab er, denn er vermutete, daß Candy von einer Infektion befallen wäre. Näheres konnte er nicht sagen, denn er konnte Candy nicht genau untersuchen. Vielleicht sei die Umstellung die Ursache, vielleicht irgendein Virus, das den anderen Katzen bei uns gar nichts ausmachte, gegen das Candy aber keine Abwehr aufgebaut haben könnte.

Am nächsten Tag bekam Candy wieder eine Spritze und am dritten Tag noch einmal. Ganz langsam sahen wir die ersten Zeichen von Besserung. Erst trank sie etwas Wasser, dann nahm sie ein kleines Stückchen Taubenfleisch. Ihr Appetit besserte sich mit jedem Tage. Wir wollten uns grade freuen, da bekam sie einen ganz fürchterlichen Durchfall. Sie wurde unsauber und man merkte, wie sehr sie das quälte.
Es gelang mir sie in ihrem Kistchen nach oben zu bringen. Im Badezimmer war der Fußboden besser zu reinigen. Diesmal gab der Tierarzt mir kleine Tabletten, die sollte ich ihr eingeben oder sie unter das Fleisch mischen. Natürlich gelang es nicht, die Tabletten einzugeben, das hätte mich wohl meine Finger gekostet, aber ich steckte die Medizin in kleine Stückchen Fleisch. Jedes mal ein Stückchen füttern und wenn die Tablette ausgespuckt wird, sie in das nächste Stückchen stecken, so lange bis sie sie aus Versehen doch mit herunterschluckte. Es war eine zeitraubende, aber erfolgreiche Aktion.

Das Schlimme war, es half nichts. Der Durchfall wurde immer schlimmer. Jetzt schickte der Tierarzt wieder einmal "etwas" zum Labor der Tierärztlichen Fakultät in Utrecht. Gleich am nächsten Tage bekam er telefonisch Bericht: sofort alle Medizin absetzen! Die Katze hätte keine Spur von Darmflora mehr. Empfehlung: die Katze solle Joghurt trinken. Sofort wurde Joghurt geholt und Candy auf einem Schüsselchen angeboten. Sie stürzte sich darauf und trank die ganze Portion in einem Zuge auf.

Nie wieder in ihrem Leben hat Candy Joghurt angerührt. Wir haben ihn ihr ab und zu einmal angeboten. Sie mochte ihn nicht. Aber in dem Augenblick wusste sie was gut für sie war.

Sofort trat Besserung ein. Gleichzeitig erwachte bei Candy wieder das Interesse an ihrer Umgebung und vor allem an ihrer geliebten Cleo. Der Augenblick war angebrochen, wo wir sie mit den andern Hausgenossen bekannt machen konnten.

Das war natürlich schrecklich spannend, denn Candy war zwar die Kleinste im Haus, aber gleichzeitig diejenige, deren Vorgeschichte, die man sich aus ihrer anfänglichen Angst und Aggressivität gut vorstellen konnte, doch zur Vorsicht mahnte.

Also brachte ich sie in ihrem vertrauten Kistchen herunter, damit sie in dem Kistchen ein Stück eigenes Territorium haben würde, das ihr etwas Sicherheit geben würde. Ich setzte es in eine Ecke neben Buenas "Schrank" und was jetzt geschah war vollkommen unerwartet. Buena, die auf einem Sessel lag, wurde sofort wach, schnupperte und flog auf das Kistchen zu.

Candy hatte im Nu die Situation erkannt, fühlte sich wohl im Kistchen ohne Fluchtmöglichkeit bedroht und war in einem Satz oben auf der Kiste. Buena machte zum ersten Mal, seit sie bei uns war, eine deutliche Drohgebärde: gekrümmter Rücken, gesträubte Haare und heftig peitschender Schwanz. Sie stieß einen ganz merkwürdigen, halb knurrenden, halb rufenden Laut aus. Aber Candy oben auf der Kiste, und mit deren Hilfe jetzt größer als Buena, fauchte nicht, aber sie flüchtete auch nicht. Sie sah sich das an, wie man ab und zu einmal jemand ansieht, der sich schrecklich aufregt und zu dem man sagen möchte: "Weißt du was, reg' dich wieder ab!"
Es war absolut lächerlich, nur Buena schien das nicht grade so zu sehen. Eine kurzer Blickwechsel, bei dem Candy deutlich die Überlegene war, und dann zog sich Buena, unsere große, starke, beinah erwachsene Buena, auf ihren Lieblingsplatz zurück. Candys Neugier war nun erwacht, sie ging ihr nach, aber dann kam Cleo dazwischen, die sich des Ernstes der Situation gar nicht bewusst war, und verlangte mit Candy zu spielen.

Wir haben viel über Buenas Verhalten nachgedacht und gesprochen. Es passt eigentlich gar nicht in das Schema eines Raubtieres, das "von Vögeln und kleinen Säugetieren" lebt. In der Natur würde Candy für Buena wenn nicht sogar Beute, dann wenigstens eine Konkurrentin im Kampf um die Nahrung sein.

Heute verstehe ich kaum noch, daß ich damals so viel Vertrauen in den guten Ablauf der Ereignisse hatte. Es hat sich als berechtigt erwiesen, aber aus welcher Quelle ich mein Vertrauen damals geschöpft habe, ist mir noch ein Rätsel. Der Gedanke daran, daß etwas schief gehen könnte, kam einfach nicht in mir auf. Vielleicht hatte das sogar einen guten Einfluss. Daß die Katzen und vor allem die Wildkatzen stark auf unsere Gedanken reagieren, habe ich mehr als einmal deutlich erfahren.

Es kann Buenas zweifellose Gutmütigkeit sein, Margays werden allgemein die zutraulichsten unter den Wildkatzen genannt. Das ist allerdings als Antwort nicht genug. Aus Candys Einstellung Gefahren oder Feinden gegenüber, - und zu den Feinden gehörten im Anfang naturgemäß auch wir- erklärt sich ihre anfängliche Bereitschaft, sich gegen alles, was fremd war, zu verteidigen.

Bei Buena dagegen hatten ihre Jugenderfahrungen, als sie klein, hilflos und krank bei uns ankam und von uns gepflegt wurde, einen großen Einfluss auf ihr späteres Verhalten. Dazu kommt die Tatsache, daß sie zwar größer war, aber jünger und "im Kampf unerfahrener" als Candy. Buena blieb Candy gegenüber für lange Zeit die rangniedrigere.

Der holländische Biologe Dr. C. Naaktgeboren schreibt in seinem Buch "Mens en Huisdier" (Mensch und Haustier) über gestutztes Verhalten und meint damit, daß Domestikation, Erziehung (Dressur), aber auch, bei wilden Tieren, häuslicher Umgang ohne weiteres eine Hemmung im natürlichen Verhalten bewirken.

Buena zeigte ihre scheinbare - Unterlegenheit und Bereitschaft zum Frieden, indem sie sich kleiner machte als Candy. Zu Anfang nahm sie grundsätzlich einen niedrigen Platz ein, der einen kleinen Abstand zwischen ihr und Candy lie . Später suchte sie die Nähe von Candy und machte sich dort klein, während Candy darauf reagierte, indem sie sich grade recht groß machte. Sie streckte richtig ihren Hals dabei.

Die Verhaltensforscher nennen die Gebärde, wie Buena sie zeigte, die "Demutshaltung". Hunde halten dem überlegenen Gegner ihre Halsschlagader so hin, daß es dem Gegner leicht fallen würde, den tödlichen Biss zu tun. Gerade diese Demutshaltung aber hat den Effekt, eine Hemmung auszulösen, die Frieden stiftend wirkt. Es ist genug der Überlegene zu sein. Die Natur kennt da eine gewisse Fairness. Der andere wird erst einmal in Ruhe gelassen, d.h. wenn man ihn nicht gerade fressen will.

Bei manchen Vogelarten duckt sich der unterliegende Kampfpartner und sperrt seinen Schnabel auf, als ob er erwartete, gefüttert zu werden. Das wirkt "entwaffnend" auf den anderen: "Gegen Kinder kämpfe ich nicht!"

Die allerorts bekannte Ethologin Jane Goodall, die jahrelang Schimpansen im Urwald beobachtete und zuletzt als Mitglied der Gruppe akzeptiert wurde, hatte dabei viele Schwierigkeiten zu überwinden. Sie hatte zum Glück die Anstandsregeln der Schimpansen im Zoo erst gut studiert, ehe sie in den Urwald ging. Trotzdem passierte es ihr eines Tages, daß eine Gruppe von Schimpansen sie angreifen wollte. Schnell setzte sie sich auf den Boden, damit sagte sie in der Schimpansensprache: "Ich sitze hier ruhig, von dieser Position aus kann ich keine Bedrohung für euch sein." Trotzdem wurde sie scheinbar als Eindringling angesehen. Eine Gruppe von Schimpansenmännchen kam mit Knüppeln aus abgebrochenen Ästen (also bewaffnet!) auf sie zu. Es blieb ihr nichts anderes übrig als die deutlichste Demutshaltung der Affen einzunehmen. Sie warf sich flach auf den Boden und blieb so regungslos liegen. Bald darauf beruhigten sich ihre Angreifer. Jane Goodall hatte ihre "Unschädlichkeitsprobe" bestanden. Sie beschreibt dieses und andere Erlebnisse aus ihrer Beobachtungszeit mit Schimpansen in ihrem Buch "Wilde Schimpansen" (In the shadow of men), das auch verfilmt ist.

Solche Gebärden der Demut gibt es bei den meisten Tieren und, wie man weiss, auch bei Menschen. Wenn Affen einander begegnen, reichen sie sich die Hand, als Gebärde der Friedfertigkeit, genau wie wir. Die Gebärde des andächtig Sitzens mit niedergeschlagenen Augen erkennen wir aus der früheren Schulzeit und der Kirche. Der Knicks und die Verbeugung sind erst ganz kürzlich aus dem täglichen Leben verschwunden und in Hofkreisen gibt es sie noch immer. Sogar die völlige Ergebung, das sich dem Boden nähern bis hin zum knien und eventuell sogar zum Erde küssen erkennen wir im Ritual mancher Religionen, als Gebärde der Demut. (siehe: Desmond Morris "Der nackte Affe").

Das alles ist, nach meiner Meinung, bei Tieren eine Gebärde des Schwächeren dem Stärkeren gegenüber, nach dem Kampf oder nach der Drohung. Bei Menschen sehe ich das genau so. Regierungen und Religionen, aber auch die Köpfe von Vereinen oder Betrieben üben ebenfalls eine Macht aus die dem Menschen nach Belieben helfen oder ihn vernichten kann. Diese Macht erzeugt massenhaft Demutshaltungen , man sieht sie überall, wenn man nur hinschaut. Das haben wir eben noch von unseren Vorfahren, den Affen.

Anders war es in unserem Fall. Buena war die physisch stärkere unserer beiden Wildkatzen. Sie hatte keine Demutsgebärde nötig. Sie fühlte sich auch sicher genug, Candy nicht als gefährlichen Eindringling zu sehen, brauchte ihr also nicht zu drohen. Ich habe ihre Haltung, - die im Klavierfoto am deutlichsten zum Ausdruck kommt- immer gern "freiwillige Kapitulation" genannt. Ein Gefühl der Sicherheit kombiniert mit viel gutem Willen kann Berge des Misstrauens versetzen. Auch eine freiwillige Kapitulation kann ein Sieg sein.

Auf die Dauer war das ganze Verhältnis zwischen Buena, Candy und den anderen Katzen völlig entspannt und gleichberechtigt und ohne Rivalität.

Uns Menschen gegenüber verhielt Candy sich jetzt zwar zurückhaltend aber nicht mehr scheu. Sie lief nicht mehr vor uns fort und zeigte keine Angst. Aber sie hatte auch kein Bedürfnis an körperlichem Kontakt, wie Buena es hatte, die sich bei jeder Gelegenheit an uns Menschen schmiegte.

Wenn ich zu anderen über Candy sprach, wurde ich ab und zu einmal gefragt: "Ist sie lieb?" Dann antwortete ich: "Ja, sie ist sehr lieb!" und dann kam prompt eine Bemerkung wie: "Also, dann kann man sie sicher streicheln und auf den Scho nehmen?" - "Nein", sagte ich dann, "wenn das Ihre Definition von "lieb" ist, dann ist sie in dem Sinne nicht lieb. Diese Art von Liebe, bei der wir unser Bedürfnis an Zärtlichkeit an den Tieren abreagieren wollen, mag sie nicht. Aber sie gibt mir etwas viel Wertvolleres: ihr Vertrauen. Und das habe ich als Mitglied der Menschheit keineswegs verdient."

Solche Gespräche verliefen nicht immer befriedigend.

Candy selbst hielt sich da raus. Sie verschwand, sobald fremde Leute zu Besuch kamen. Sie vertraute uns, aber sie hütete sich, das Vertrauen auch auf andere auszubreiten.

Candy war eben eine sehr kluge Katze.

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